Vera Kaltwasser: Wie Achtsamkeit Kindern helfen kann

"Wir brauchen Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche, mit denen sie lernen können, sich selbst zu beruhigen, ihre Aufmerksamkeit zu steuern und aufeinander zu achten."

Vera Kaltwasser ist Lehrerin, Seminarleiterin und Autorin. Mit ihrem Rahmencurriculum AISCHU (Achtsamkeit in Schulen) bildet sie schon seit Jahren Lehrkräfte für die Vermittlung von Achtsamkeit im Unterricht fort. Für 7Mind hat sie jetzt den speziell für Kinder und Jugendliche konzipierten Kurs 7Mind Kids & Schule entwickelt, mit dem auch Eltern zu Hause ihren Kindern spielerisch die Meditation näherbringen können. Im Interview erklärt sie, wieso Meditation bei Kindern so hilfreich ist, gerade in unserer hektischen digitalen Zeit.

1. Sie sind Autorin mehrerer Bücher zur Achtsamkeit im schulischen Kontext und arbeiten als Pädagogin schon seit Jahren in diesem Bereich. In Ihrem eigenen Unterricht, aber auch in der Lehrerfortbildung. Welche ganz konkreten Auswirkungen hat Achtsamkeitstraining auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern?

Die Haltung der Achtsamkeit entspricht im Grunde dem klassischen Bildungsideal; Kinder und Jugendliche zu befähigen, selbstbestimmt zu leben, ihre Persönlichkeit zu entfalten und ethisch fundiert zu handeln. Es geht hier um eine bewusste Haltung, die erworben wird und die sich auf den gesamten Menschen, auf Körper und Geist erstrecken muss. Aus der Hirnforschung der letzten Jahre wissen wir, wie mächtig die tieferen Hirnschichten in unser Erleben und Fühlen hineinregieren. Wir brauchen Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche, mit denen sie lernen können, sich selbst zu beruhigen, ihre Aufmerksamkeit zu steuern und aufeinander zu achten. In den letzten zehn Jahren haben wir daran gearbeitet, konkrete Umsetzungswege für den schulischen Unterricht zu entwickeln: Ergebnis ist das Rahmencurriculum AISCHU, das inzwischen mit zwei Studien – geleitet von Prof. Dr. Kohls – beforscht wurde. Es ist praxiserprobt und wird derzeit in mehreren Institutionen der Lehrerfortbildung an Lehrer/innen vermittelt, die zunächst selbst die Haltung der Achtsamkeit verkörpern lernen und dann in einem kontinuierlichen Prozess im schulischen Unterricht in altersgereichter Weise die Schüler befähigen, sich selbst anzunehmen und zu bestimmen: Kontinuierliche Selbstwahrnehmungsübungen, Psychoedukation, Erfahrungsaustausch und interaktive Dialogübungen befähigen Schüler/innen, ihre Emotionen zu regulieren, Ihre Aufmerksamkeit zu steuern und sich im sozialen Miteinander bewusst zu verhalten.

2. In einer Studie der Krankenkasse DAK-Gesundheit, gab fast jeder zweite Schüler der mittleren Klassenstufen an, unter Stress zu leiden. Am häufigsten klagten die Schüler über Bauchschmerzen, Rückenschmerzen und sogar Schlafprobleme. Wie kommt es, dass Kinder schon in so jungem Alter unter starken Erschöpfungserscheinungen leiden?

Dafür gibt es viele Gründe, angefangen bei den internalisierten Leistungsanforderungen, die im Elternhaus oft subtil vermittelt werden. Die Fülle an Außenreizen, die auf die Kinder einströmen, bewirkt eine permanente Außenorientierung. Die sogenannten sozialen Netzwerke schüren soziale Ängste oder verführen zu der Suche nach ständiger Anerkennung durch „likes“

3. Welches Feedback bekommen Sie von Kindern und Jugendlichen zu dem Rahmencurriculum AISCHU, welche von den Eltern?

Die Übungsreihen, die ja aufeinander aufbauen und letztlich ein kleiner, aber sehr wirksamer Teil des schulischen Unterrichts sind, werden gut angenommen, einfach auch weil die Kinder und Jugendlichen merken, wie wohltuend es ist, sich selbst beruhigen zu können und den eigenen Ängsten nicht ausgeliefert zu sein. Auch soziale Ängste werden mit der Zeit durchschaut und die Kinder lernen Vorurteilen abzubauen.

Von den Eltern haben wir zu keiner Zeit gehört, dass diese Arbeit „Zeitverschwendung“ sei, denn schließlich finden die Übungen ja im regulären Unterricht statt. Wenn sie einmal gut eingeführt sind, auch mit der entsprechenden Psychoedukation, dann sind die Erfolge der Übungen so spürbar, dass die Eltern merken, wie sich die Kinder und Jugendlichen positiv verändern.

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4. Achtsamkeitstraining entspringt einer fernöstlichen Tradition. Gibt es da Vorbehalte, da die Übungen ja teilweise aus buddhistischen oder anderen Traditionen wie dem Yoga oder dem Qigong stammen?

Prof. Jon Kabat-Zinn hat mit der Entwicklung des MBSR-Programms (Mindfulness-Based-Stress-Reduction), das diese Übungen in einen westlichen, wissenschaftlichen Kontext der Stressbewältigung stellt, sehr viel für die Akzeptanz dieser Übungstraditionen getan. Die zahlreichen wissenschaftlichen Forschungen zu MBSR – Mindfulness-Base-Stress-Reduction – belegen, wie wirksam körperorientierte Verfahren kombiniert mit Methoden der Stressbewältigung aus dem Westen sind. Die Atembeobachtung ist doch einfach eine Möglichkeit für alle Menschen, sich selbst zu beruhigen, westlich ausgedrückt, den Parasympathikus zu stärken. Bei uns gibt es einfach weniger Traditionen, welche Körper und Geist im Wechselspiel als Grundlage für die Persönlichkeitsentwicklung als Basis haben.

5. Wie kann man Kinder an das Thema Meditation und Achtsamkeit heranführen? Gibt es bestimmte Methoden, um bei Kindern die nötige Neugier zu erwecken, die eigenen Sinneswahrnehmungen zu erforschen?

Da sprechen Sie einen ganz wichtigen Aspekt an. Die Art, wie Kinder und Jugendliche an diese Übungswege herangeführt werden, bestimmt den Erfolg der Arbeit. Mit AISCHU haben wir einen guten Weg gefunden: Wir haben mit Kolleg/innen und Wissenschaftlern viele Jahre erprobt, wie die Motivation zu wecken ist und wie die Kinder und Jugendlichen lernen, die Haltung der Achtsamkeit spielerisch zu erkunden und zu ihrer eigenen Sache zu machen.

6. Wie stehen Sie dazu, dass Kinder und Jugendliche APPS verwenden, um damit selbst zu meditieren.

Danke für diese Frage! Teil des Curriculums AISCHU ist auch die Befähigung zur bewussten Nutzung der elektronischen Medien, die inzwischen unseren Alltag oder genauer unsere Gehirne infiltriert haben und uns unterschwellig in gewisser Weise steuern. Es gibt ja schon interessante wissenschaftliche Studien dazu, dass die Nutzung z.B. der sozialen Netzwerke tief in die unbewussten Bereiche der Einzelnen eingreift. Jeder „Like“ aktiviert das Belohnungszentrum. Die Erwartung, dass wir gleich wieder eine „Belohnung“ bekommen könnten, verführt uns, immer wieder nachzusehen, was es denn da Neues gibt. Und nun soll eine APP sozusagen den Gebrauch des Smartphones adeln, indem sie mit dem Ziel der Selbstbestimmung daher kommt, aber ein Medium nutzt, das diese so oft aushebelt.

Meine Antwort auf diese Paradoxie geht in die folgende Richtung: Es ist an der Zeit, den bewussten Umgang mit dem Smartphone, in der Schule und in anderen erzieherischen Kontexten den Kindern und Jugendlichen zu vermitteln Das ist unsere Verantwortung als Pädagogen, die Eltern stehen oft hilflos dem Phänomen gegenüber, dass ihre Kinder dem Smartphone so ausgeliefert sind. Hier hat die Schule eine große Aufgabe, dem gegenzusteuern. Wenn Kinder und Jugendliche im Unterricht schon auf die oben beschriebene Weise – zu Beispiel im Verlauf der schulischen Achtsamkeitsarbeit mit AISCHU – z.lB. durch Psychoedukation über die Wirkung des elektronischen Medien auf Körper und Emotionen aufgeklärt werden und diese Wirkung auch immer genauer spüren, dann entsteht ein Raum, in dem eine Sehnsucht nach innerer Ruhe entsteht. Die schulische Achtsamkeitsarbeit kann dann wunderbar zu Hause unterstützt werden, mit der App, die ich gestaltet habe. Es wäre doch auch eine gute Idee, wenn die Eltern dann einfach mal mit den Kindern gemeinsam, die App hören, um die Abläufe zu lernen. Das Königsziel ist es, dass dann die Kinder und Jugendlichen immer mal wieder im Alltag, sich selbst aus eigenem Antrieb in die Ruhe begeben, so wie sie es mit der App gelernt haben.

7. Frau Kaltwasser, Sie haben vor zehn Jahren damit begonnen, sich in der Lehrerausbildung und im direkten Austausch mit den Kindern und Jugendlichen im Unterricht der Vermittlung der Haltung der Achtsamkeit zu widmen, immer mit dem Ziel klar zu machen, dass es hier nicht um Techniken zur Selbstoptimierung geht, sondern um das große Ziel der Persönlichkeitsentwicklung.

Unser Alltag wird immer hektischer. So viele Angebote im Außen buhlen um unsere Aufmerksamkeit. Die Unzufriedenheit wird geschürt, es gibt immer noch etwas zu optimieren. Wir kommen nicht dazu zu fragen: Was wollen wir eigentlich wirklich? Wir sind ja alle miteinander verbunden und die großen Fragen der Menschheit, wie wir friedlich miteinander leben können, wie wir unsere Erde vor irreversiblen Schädigungen schützen können, wie wir mit Freude und Engagement zusammen leben und uns nicht von Ängsten und Befürchtungen leiden, all diese Fragen brauchen Antworten, die jeder Einzelne finden muss. Gerade Kinder und Jugendliche brauchen hier Vorschläge. Wer sich selbst immer besser kennenlernt, die Gesetzmäßigkeiten seines Organismus versteht und Wege beschreitet, wie er sich selbst aus der Stress-Falle der Ängste, Unzufriedenheit, Aggression befreit, der lernt, den Käfig der Ego-Falle zu verlassen und in der Beziehung mit Anderen gemeinsam sich einzusetzen für eine bessere Welt. Große, positive und nachhaltige Veränderungen in der Welt – das klingt banal, ist es aber eben nicht – beginnen mit bewussten täglichen Entscheidungen.

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