So lernen wir Grenzen zu setzen

Sie sind das Fundament der Selbstfürsorge, unser Schutzraum und dienen uns oft als Wegweiser: Die eigenen Grenzen. Wie du lernst, Grenzen zu setzen, erfährst du hier.

von Daniela Obers

Grenzen, das Fundament der Selbstfürsorge

Wir spüren sie meist nur, wenn sie überschritten werden: Unsere Grenzen. Verläuft alles in den für uns geordneten Bahnen, im sogenannten “grünen Bereich”, besteht erst einmal kein Bedarf, eine klare Trennlinie zu ziehen. Da muss schon etwas an uns rütteln, ziehen und zwicken um zu merken “bis hierhin und nicht weiter”. Damit liegt es in der Natur der Grenze, dass wir in weniger angenehmen Situationen über sie stolpern. Dann wenn die Energie vielleicht bereits aufgebraucht ist, wenn angestaute Wut aus uns herausplatzen will, wenn wir sprachlos ob der vermeintlichen Frechheit unseres Gegenübers sind. Ja, das sind unangenehme Momente. In diesen Situationen Grenzen setzen zu lernen ist für viele eine Herausforderung. Gleichzeitig sind es die lehrreichen Momente, denen wir ein offenes Ohr schenken sollten. Doch warum eigentlich?

Grenzen setzen lernen: Wofür ist das gut?

Kennst du das? Eine Freundin fragt dich nun zum dritten Mal, ob du ihm beim Umzug helfen könntest. Die Mutter ist enttäuscht, weil sie erwartet hat, dass du dich öfter meldest oder zu Besuch kommst. Der Partner beschwert sich, dass du doch mit dem Kochen heute dran warst. Und du? Brauchst einen freien Sonntag um Energie zu tanken anstatt Möbel zu tragen, hattest schlichtweg in dieser Woche keine Lust auf eine familiäre Auseinandersetzung am Telefon und hast die Präsentation für die Arbeit fertig gemacht, anstatt zu kochen. Und das ist okay.

Diese drei Menschen äußern ihre Erwartungen und Wünsche dir gegenüber. Und du? Du hast deine eigenen Bedürfnisse und Erwartungen. Vielleicht spürst du bereits einen kleinen Funken Wut in dir aufkeimen, wenn du in einer ähnlichen Situation wie den gerade beschriebenen bist. Wut ist eines der ersten Anzeichen dafür, dass eine Grenze für uns überschritten wurde. Dass wir gerade auf uns aufpassen sollten. Und ja, wir wollen unseren Freund:innen helfen und die ein oder der andere will vielleicht auch eine gute Beziehung zur Mutter haben. Um diese Beziehungen zu pflegen, müssen wir aber nicht ausschließlich deren Bedürfnissen nachkommen. Nein, hier braucht es den Schritt zurück, die eigene Grenze, den eigenen Schutz. Und damit beginnen wir Verantwortung für uns und unser Leben zu übernehmen.

Eine klare Abgrenzung schafft einen Schutzraum. Sie trennt womöglich dein Bedürfnis von dem deines Gegenübers, deine Verantwortung oder auch deine Erwartung von der des anderen. Jene Wut bei einer Grenzüberschreitung ist ein wichtiger Wegweiser. Im lauten und oft überladenen Alltag fällt das Wahrnehmen der eigenen Bedürfnissen manchmal schwer, die “Grenzwut” kann da das Zeichen sein, das wir benötigen.

Aber hast du schon einmal von einem Alltag voller Grenzerfahrungen gehört? Klingt ziemlich anstrengend, oder? Das kann und sollte nicht unser Modus Operandi sein, denn der ist nunmal ganz schön energiezehrend. Während die Grenzwut an Gabelungen hier und da unser Wegweiser sein darf, brauchen wir eine Möglichkeit, um ansonsten proaktiv im grünen Bereich zu bleiben. Proaktiv - das bedeutet in diesem Fall zu wissen, wo unsere Grenze ist, wie es um unseren Energiehaushalt steht und welche Werte in unserem Leben respektiert und gelebt werden möchten. Wie also kann das proaktive Leben im grünen Bereich klappen?

So erkennst du deine persönlichen Grenzen

Zunächst einmal dürfen wir an dieser Stelle anerkennen, das Grenzen etwas höchst individuelles sind. Du setzt sie für dich fest. Du darfst sie immer wieder anpassen. Es gibt hier kein allgemeingültiges Richtig oder Falsch. Sie sind da um dich zu schützen. Mit diesen drei Fragen kannst du dich deinen persönlichen Grenzen nähern.

Was zieht mir Energie?

  • Gehst du aus den Treffen mit bestimmten Personen oder Personenkreisen mit mehr oder weniger Energie raus? Welche Tätigkeit, welche Umgebung machen dich (unangenehm, nicht die schöne nach-dem-Sport-müde Art) müde? Überlege einmal, ob es Energievampire in deinem Leben gibt, denen du - zumindest ab und an - mal einen Riegel vorschieben willst.

Schaffst du manchmal deine eigenen Aufgaben nicht mehr?

  • Leidet deine To Do Liste oder deine ganz persönliche Entwicklung darunter? Das kann ein Zeichen dafür sein, dass du zu viel im Außen bist, andere unterstützt und deine eigenen Ziele und Aufgaben bewusst oder unbewusst depriorisierst. Wo kannst du im Außen öfter nein sagen? Welche Tätigkeit möchtest du, vielleicht schon in der nächsten Woche, in deinen Alltag integrieren, weil sie dir gut tut?

Wann spürst du Wut oder Groll in dir?

  • Im ersten Teil des Artikels sprachen wir über die Grenzwut. Nun rücken wir abermals den Fokus auf Wut und Groll. Denn sie können uns nicht nur in der akuten Situation einer Grenzüberschreitung helfen. Nein, auch langfristig können sie uns ein guter Wegweiser werden, indem wir sie bewusst wahrnehmen. Ganz im Sinne der Achtsamkeit. Wir sind im Alltag oft so darauf getrimmt zu funktionieren, dass wir Wut und Groll in uns schnell zur Seite schieben. Übst du dich darin, Wut und Groll erst einmal ganz bewusst wahrzunehmen anstatt sie zu verdrängen, kannst du aus ihnen lernen. Hier gilt es nun, die einzelnen Puzzleteile zusammen zu fügen. Kannst du ein Muster erkennen, wann und wie Wut in dir aufkeimt? Ist es beispielsweise dann, wenn dir jemand ganz kurzfristig eine Aufgabe gibt? Oder dann, wenn dir jemand ins Wort fällt? Erkennst du ein Muster, so ist dies ein Hinweis darauf, welcher deiner Werte gerade verletzt wird. Hier kann es sich lohnen, gezielt mit dem Grenzen setzen zu starten.

Grenzen setzen ist Übungssache! Unsere 4 Tipps:

Unsere Grenzen zu kennen, ist ein hilfreicher Start. Jetzt kommt jedoch der schwierige Teil: Setzen wir diese neu erlangten Kenntnisse im Sinne neuer Grenzen auch durch, so bedeutet das auch, bisherige Routinen und Gewohnheiten zu durchbrechen. Das fühlt sich für uns selbst, sicherlich aber auch für die Menschen, die uns zuvor “grenzenlos” erlebt haben, ungewohnt an. Deswegen geben wir dir hier zum Schluss noch ein paar Tipps mit, deine neuen Grenzen besser kennenzulernen und zu festigen.

Übung, Übung, Übung

  • Zu allem Ja zu sagen ist - im ersten Moment - der einfache Weg. Nein zu sagen, eine Grenze zu ziehen, ist etwas Neues und benötigt Mut. Das dürfen wir uns sehr wohl bewusst machen. Es kann daher helfen, ganz bewusst zu üben. Gibt es einen Freund oder eine Freundin, die sich beim Grenzen-setzen-üben unterstützen kann? Besprecht dieses Ziel ganz offen miteinander. Übt gemeinsam Grenzen auszusprechen, die auch mal ganz bewusst über das eigene Komfortlevel hinausgehen. Manchmal erkennen wir Grenzen erst, wenn wir sie überschritten haben. Das passiert dann umso besser im geschützten Raum einer Freund:innenschaft.

  • Auch die Klarheit eines Neins darf geübt werden. Wie wäre es beispielsweise in der Fußgänger:innenzone, wenn du mal wieder für diverse Mitgliedschaften angesprochen wirst? Hier kannst du ein klares, freundliches Nein bestens üben. Ohne Rechtfertigung. “Nein danke.” Lächeln, weitergehen.

Werde dir deiner Werte bewusst

  • Nach der Grenzwut und dem Wutmuster ist die Wertearbeit der nachhaltigste Schritt um deine neuen Routinen zu üben. Setzt du dich immer wieder und langfristig mit deinen Werten auseinander, so übst du auch einen stärkeren Zugang zu deiner Intuition. Auch Entscheidungen und Grenzen lernst du so langfristig auf eine Weise und an Stellen zu setzen, die zu dir passen. Verankerst du deine Werte sehr präsent in dir und leitest ganz bewusst aus ihnen ab, wie sie deinen Alltag beeinflussen (zum Beispiel bei der Beziehungsgestaltung, Entscheidungen treffen, Prioritäten setzen), so werden sie zu einer Art Polarstern für dich. Deine Grenzen zu ziehen, wird sich für dich mit der Zeit natürlicher anfühlen und mehr aus der Intuition gespeist sein. Wenn du weißt, wofür du etwas machst, wird dies eine innere Klarheit in dir schaffen und du weißt wiederum wofür du deine Grenze setzt.

Raum schaffen, um mit dir einzuchecken

  • Oft übergehen wir unsere eigenen Grenzen, weil das drum herum zu laut, zu überlagernd, zu fordernd ist. Wir übergehen das nagende Gefühl des Grolls oder, dass da gerade ein Energievampir am Werk ist. Um diese Momente bewusst wahrzunehmen und uns selbst zu hören, kann es helfen, sich einmal aus der Situation herauszuziehen. Und das hat nicht von sicher-heraus-winden. Denn auch hier können wir sehr klar werden:

    “Ich spüre gerade einen Widerstand in mir und kann ihn noch nicht benennen. Ich brauche etwas Zeit für mich.“ Oder “Ich kann dir gerade keine Zusage geben und melde mich später/morgen dazu noch einmal.”

Du darfst Jein sagen

  • Zwischen ja und nein gibt es immer einen Bereich, der genutzt werden darf. Meist werden wir mit schwarz-weiß Entscheidungen vor die Wahl gestellt. Es gibt jedoch immer mehr als schwarz und weiß. Das dürfen wir bei unserer Antwort in Betracht ziehen und das gesamte Antwortspektrum für uns nutzen. So sage ich vielleicht nein zum Umzug an diesem Wochenende, biete jedoch meine Gesellschaft für den nächsten Besuch im Möbelhaus an.

Grenzen zu setzen ist nicht egoistisch. Es mag uns oft so vorkommen, weil wir in dieser einen Situation nein sagen und nicht die Erwartung erfüllen, die jemand anderes an uns hat. Es mag sich unangenehm anfühlen, da es womöglich im ersten Schritt nicht die Anerkennung von außen bringt, die unbestritten nunmal gut tut. Unseren eigenen Schutzraum zu kennen und für uns selbst zu sorgen, ist jedoch auf kurze und lange Sicht eine verdammt gute Idee. Und falls dir der Applaus von außen fehlt: Stell dir bei jedem bewussten “Nein” in Zukunft vor, wie dein inneres Team dir laut zujubelt. Ein Applaus, den wir uns viel zu selten gönnen.

Die Podcastfolge zum Artikel:

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