Toxic Positivity: Von der Gefahr, sich selbst zu belügen

"Denk positiv" – Macht uns das wirklich zu glücklicheren Menschen? Oder machen wir uns beim Versuch einer besseren Lebensführung etwas vor? Ein Aufruf zu mehr Ehrlichkeit.

Wie viel Positivität ist zu viel?

Endlich haben wir Menschen begriffen, dass die innere Einstellung zu Dingen, die mit uns und um uns herum passieren, ausschlaggebend für unser Glück ist.

Doch Moment mal: Heißt das, wir können alles, was im Außen passiert, irgendwie so drehen, dass es uns gut tut? Nein. Diese Falle, allem eine positive Seite zu verschreiben, hat einen Namen: Toxic Positivity.

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Toxic Positivity äußert sich vor allem darin, jeden negativen Gedanken, jedes unwohle Gefühl oder eine unangenehme Reaktion im Außen mit etwas Positivem ausgleichen zu wollen: Das Gespräch mit deiner Chefin ist nicht gut gelaufen? "Aber hey, wenigstens scheint heute die Sonne". Dein Freund hat schon wieder eine Job-Absage bekommen? "Die sind ja selbst schuld. Bestimmt wartet da noch eine viel bessere Stelle auf dich."

Was gut gemeint ist, kann auch Schaden anrichten: Denn zu viel unrealistischer Optimismus kann uns unglücklich machen und unser Leben unauthentisch. Warum das so ist, erklären wir in diesem Artikel. Wo also ist die Grenze zwischen Optimismus und unrealistischer Positivität?

Warum zu viel positives Denken schadet

Unangenehme Emotionen ständig mit etwas positivem auszugleichen ist hart gesagt Verdrängung. Wir wollen das Negative nicht fühlen, also suchen wir uns einen positiven Aspekt an der Situation, an dem wir uns festhalten können. Doch funktioniert das langfristig? Folgende Probleme können dabei entstehen:

1. Verdrängung verstärkt unsere Emotionen

Studien zeigen, dass Emotionen verstärkt werden können, wenn wir sie unterdrücken. In einem Experiment von 1997 bekamen zwei Gruppen Videos von medizinischen Eingriffen gezeigt. Die einen sollten dabei ihre Gefühle zeigen, die anderen bekamen die Vorschrift, sich nichts anmerken zu lassen. Das Ergebnis: Bei denjenigen, die ihre Gefühle unterdrückten, wurden stärkere physiologische Reaktionen auf die unangenehmen Bilder gemessen.

Das Gleiche passiert, wenn wir ein unangenehmes Gefühl nicht ausdrücken, weil wir es sofort mit "der positiven Seite der Situation" überlagern: Es wird sich auf Dauer verstärken.

Es geht nicht darum, bei jeder Gelegenheit deine Gefühlswelt zu offenbaren, wenn dich jemand fragt, wie es dir geht. Das Entscheidende ist, ehrlich mit dir selbst zu sein und mit deinen engen Freund:innen über deine Probleme zu sprechen. Und zwar ohne sie dabei schön zu reden. Und das beginnt damit, deine Gedanken und Gefühle ehrlich wahrzunehmen.

2. Ohne Fühlen keine Veränderung

Stell dir folgende Situation vor: Etwas passiert, das dich sehr stört. Doch das negative Gefühl, das sich auftut, überlagerst du mit einem angenehmeren, indem du die Situation herunterspielst - "Ach, das wird schon wieder", "So schlimm wird es nicht sein". Was passiert dann? Genau, nichts.

Und was, wenn wir du dich trauen würdest, deinem Gefühl nachzugehen? Es öffnet sich die Chance, den Ursprung deiner Gefühle zu verstehen: Was dich wirklich stört oder woher dein Unwohlsein kommt. Und tust damit den ersten Schritt, um etwas an der Situation zu ändern. Denn erst durch Auseinandersetzung ist eine konstruktive Problemlösung möglich! Das ist zwar sicherlich nicht der leichteste Weg, doch derjenige, der die Veränderung hervorbringen kann, die du letztendlich brauchst.

Klar, manche Probleme können wir nicht kurzerhand lösen, auch wenn wir sie identifiziert haben. Das Leben ist bekanntlich komplex und Probleme oft miteinander verwoben.

Bei zu viel Optimismus schrauben wir sofort an unserer Einstellung, obwohl es vielleicht eine viel bessere Lösung gäbe. Eine Lösung, die jedoch im Dunkeln bleibt, weil wir mit überlagerndem Optimismus gar nicht den Kern des Problems erkennen können. Um zu verstehen, was genau uns an einer Situation stört, müssen wir unsere Gefühle annehmen. Und nur wenn wir diese Erkenntnis ins Licht holen, kommen wir zu einer Problemlösung, die uns wirklich glücklich macht.

Und dafür müssen wir erst mal andere Stellschrauben als unsere Haltung in Erwägung ziehen. Die Reihenfolge der Problemuntersuchung könnte eher sein:

  • Unangenehmes Gefühl wahrnehmen und auf den Grund gehen

  • Problem identifizieren

  • Kannst du das Problem lösen? Dann tu, was in deiner Macht steht.

  • Kannst du es nicht lösen? Dann ist jetzt der Zeitpunkt, die Situation anzunehmen. Was übrigens nicht heißt, dass du sie gut finden musst.

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3. Wir blockieren unsere Beziehungen

Stell dir einen Menschen vor, der immer gut drauf ist und mit allem ohne Probleme klar kommt. Würdest du mit ihm gerne über dein Gefühlsleben reden? Vermutlich nicht. Möchte sich jemand gar nicht erst in negative Gefühle reindenken, ist im Gespräch weder emotionale Unterstützung noch konstruktive Problembesprechung möglich.

In der "Positive vibes only"-Welt, tendieren wir dazu, unsere Gefühle schönzureden. Und wenn das nicht geht, dann wird ihnen ein Sinn gegeben, der irgendwann zu unserem Happy End führt. "Ich bin mir sicher, dass ich irgendwann verstehen werde, warum es so passieren musste". Doch sind wir ehrlich: So geordnet ist das Leben leider nicht.

Diese Einstellung führt auf beiden Seiten der Beziehung zu Abkapselung: Du redest nicht mehr offen und ehrlich über deine Emotionen, wodurch du dich einsam fühlst. Und je weniger du über deine eigenen Schwierigkeiten redest, desto unwohler fühlt sich die andere Person dabei, offen und authentisch zu sein. So geht der Kreislauf immer weiter. Die Maske der Positivität kann Beziehungen also langfristig ziemlich oberflächlich machen.

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Wo bleibt die Ehrlichkeit?

Bei all diesen Punkten scheint es uns vor allem an einem zu fehlen: Ehrlichkeit. Ehrlichkeit uns selbst gegenüber - Was fühle ich wirklich? Aber auch Ehrlichkeit anderen gegenüber. Einerseits, indem wir unsere Gefühle nicht ausdrücken, weil wir sie nicht wahrhaben wollen. Aber auch über diese Ebene hinaus: Denn wir wollen schließlich unseren Freund:innen nicht den Optimismus nehmen, oder gar für negative Gefühle verantwortlich sein.

Toxischer Optimismus kann sich also auch zeigen, indem wir probieren, die Probleme der anderen schönzureden. Denn jemandem zu sagen, dass wir eine Idee schlecht finden, eine Person nicht leiden können oder ein einfaches "Nein" ohne "Aber", sind nicht leicht. Und mit einer Prise Optimismus lässt es sich positiv ausdrücken. Blöd nur, dass wir beim Versuch, Harmonie ins Weltbild zu bringen, unsere wahren Meinungen und Gefühle zur Seite drängen. Man kann es nicht schönreden: Wir verstellen uns.

Dabei ist Ehrlichkeit meist das einzige, was Menschen weiterbringt. Kommen wir zurück zu unserem Freund, der keinen Job bekommt. Bringt es ihm mehr, wenn wir nach jeder Absage beteuern, wie toll er ist oder wenn wir eine ehrliche Meinung zu seinem Lebenslauf geben? Kritik kann wehtun, doch wir können sie auch wohlwollend formulieren und sie wird langfristig wohl mehr geschätzt als Floskeln.

Ein Aufruf zu mehr Authentizität

Ehrlichkeit und Akzeptanz uns selbst gegenüber geht übrigens Hand in Hand mit Authentizität gegenüber anderen Menschen. Wenn wir unsere Gefühle erst mal annehmen, ist es eine Frage der Priorität und des Selbstvertrauens: Will ich lieber mir selbst treu sein? Oder ist es mir wichtiger, von möglichst vielen gemocht zu werden, indem ich immer sage, was andere hören wollen?

Letzteres trainieren sich viele von uns über Jahre hinweg an: Immer Ja und Amen zu sagen, um in Personenkreise oder Rollenschablonen hineinzupassen. Deswegen ist der erste Schritt: Nimm wahr, was du überhaupt fühlst - ohne jeglichen Filter.

Denkmuster ändern: Eine Frage der Achtsamkeit

Hier spielt Achtsamkeit eine wichtige Rolle: Die eigenen Gefühle und Gedanken annehmen, ohne wie gewohnt zu reagieren. Die Pause zwischen Reiz und Reaktion möglichst bewusst wahrzunehmen - anstatt Gefühle zu überlagern oder klein zu reden - das ist Achtsamkeit.

Und die hilft dir dabei, ehrlich mit dir und anderen zu sein. Natürlich ist das nichts, was von heute auf morgen klappt. Denkmuster zu durchbrechen ist Übungssache. Doch sicherlich eine lohnenswerte Übung, denn unsere Gedankenmuster holen uns immer wieder ein. Es sind viele kleine Entscheidungen, die bestimmen, was uns als Mensch ausmacht.

Wie wäre es das nächste mal auf die Frage "Wie geht es dir?" ehrlich zu antworten? Oder jemandem zu sagen, dass dir seine Idee nicht gefällt? Nein zu sagen, ohne eine ewige Erklärung zu geben?

Wenn wir uns selbst akzeptieren, sollten wir im selben Atemzug zufrieden damit sein, dass das nicht alle toll finden werden. Du darfst auch Meinungsunterschiede haben mit Menschen, die du sehr respektierst und sie können ebenso blöd finden, was du tust oder sagst. Die Unterschiede wie sie sind anzunehmen und zu respektieren, das ist Authentizität.

So finden wir also das richtige Maß an Optimismus und positivem Denken: Durch Ehrlichkeit, durch Reflexion und dadurch, auch mal den unangenehmen Weg zu gehen.

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Toxic Positivity: Was du dagegen tun kannst

  • Beobachte dich in Gesprächen. Vermeide Floskeln wie "Sieh's positiv", "Aber das Gute ist ja...". Geht es jemandem schlecht, braucht die Person vielleicht eher ein offenes Ohr, als gut gemeinte Ratschläge. Du kannst im Gespräch ruhig Stille zulassen.

  • Gib deinen Gefühlen Ausdruck. Schreib sie auf, sei ehrlich mit dir selbst oder rede mit engen Freund:innen darüber. Studien weisen darauf hin: Das kann unangenehme Emotionen relativieren. Außerdem baust du so authentischere Beziehungen auf.

  • Hinterfrage Social Media. Die wohl unrealistischste Darstellung des eigenen Lebens und dem der anderen, finden wir auf Instagram, Facebook und Co. Wenn du das Gefühl hast, die "denk positiv"-Mentalität ist ein Problem für dich, dann kann eine Social Media Pause Gold wert sein.

Wichtig: Die Dosis macht das Gift. Optimismus und positive Einstellung sind sicher nicht per se falsch. Es gilt Gedanken, Gefühle und Entwicklungen im Außen so anzunehmen, wie sie sind. Denn auch das Verstricken in negative Gedankenschleifen bringt uns absolut nicht weiter.

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