Wie es unser Leben bereichert, Verletzlichkeit zu zeigen

Wir blenden gerne aus, was sich unangenehm anfühlt. Verletzlichkeit zu zeigen, gehört beim ersten Hinfühlen definitiv dazu. Lassen wir es zu, hat sie etwas Besonderes für uns in petto: Den Schlüssel zum bunten Garten der Gefühle.

von Daniela Obers

Verletzlichkeit zu zeigen, ist eine Stärke

“Ich weiß nicht, wie das geht.”

“Das macht mich echt traurig.”

“Ich liebe dich.”

“Ich habe mich da gerade im Meeting total blamiert.”

Welche Gefühlsregungen tun sich in dir auf, wenn du diese Sätze liest? Nervosität, das Gefühl dich nackt zu machen, Scham und Verletzlichkeit zum Beispiel? Es sind keine Offenbarungen, die wir einfach so in die Welt hinaus rufen. Meist braucht es jede Menge Mut, um sie bewusst wahrzunehmen und sie mit einem anderen Menschen zu teilen. Sie auszusprechen ist ein Wagnis und treibt uns womöglich die Schamesröte ins Gesicht. Wir offenbaren einen Wunsch, ein Bedürfnis oder eine Angst und gehen das Risiko ein, abgelehnt zu werden. Wir zeigen Verletzlichkeit.

Beginnen wir mit der grundlegenden Frage: Was ist Verletzlichkeit? Es ist die Bereitschaft Unsicherheit, Risiko und emotionale Exposition zu zeigen.

Das klingt ganz schön ungemütlich und so gar nicht in unserer Komfortzone. Es klingt nach Risiko und Unsicherheit und etwas, das uns emotional angreifbar macht.

Verletzlichkeit ist nichts, was in unserer gesellschaftlichen DNA bereits verankert ist. Scham- und Verletzlichkeitsforscherin Brené Brown berichtete beispielsweise im Interview mit der SZ von einem Workshop, den sie leitete. Teilnehmer waren Coaches aus 48 verschiedenen Ländern. Jede:r von ihnen konnte ein Sprichwort aus seiner oder ihrer Kultur anbringen, das Verletzlichkeit mit Schwäche gleichsetzt. Wahrscheinlich kennst auch du Aussagen wie “Was dich nicht umbringt, macht dich nur stärker.” Nun sind das nur Sprichwörter, ja, doch zeigen diese immer noch den in einer Gesellschaft tief verankerten Verhaltenskodex. Verletzlichkeit zu zeigen, wird über viele Kulturen hinweg nicht als Stärke oder als Zeichen von Mut, sondern als Schwäche wahrgenommen. Glücklicherweise können wir auch an der ein oder anderen Ecke schon eine andere Strömung wahrnehmen. Doch dazu später mehr.

Wofür ist Verletzlichkeit gut?

Im ersten Moment wirkt es alles andere als intuitiv, dem Gegenüber meine Unvollkommenheit geradezu unter die Nase zu reiben. Doch tatsächlich ist das Zulassen von Verletzlichkeit und die Akzeptanz der eigenen Unvollkommenheit der Schlüssel zu einem Leben aus vollem Herzen.

Das klingt groß. Es ist auch groß. So groß, das oben genannte Schamforscherin Brené Brown erst einmal selbst eine Therapeutin aufsuchte, als sie erkannte, dass der Weg zu einem zufriedenen und authentischen Leben nicht die Perfektion, sondern die Akzeptanz von Unvollkommenheit und Verletzlichkeit benötigt. Das warf auch ihr ganz persönliches Lebenskonzept vollkommen über den Haufen! Die über Jahre gesammelten Studienergebnisse schrieen ihr geradezu entgegen: Möchtest du ein Leben führen

  • das reich an Emotionen ist

  • in dem du einen Zugang zu deinen eigenen Gefühlen hast

  • in dem du mutig für dich einstehen kannst

  • dich traust Verbindungen mit Tiefe und Bestand aufzubauen

Dann führt kein Weg am Zulassen der Verletzlichkeit vorbei.

Doch warum ist das so?

Wir können uns nicht aussuchen, was wir fühlen wollen, wenn wir uns entscheiden zu fühlen. Lassen wir unsere Emotionen zu, dann gibt es sie in all ihrer Vielfalt. Wir können nicht nur die Freude und Liebe spüren, ohne auch die Traurigkeit und Wut zuzulassen. Erkennen wir nicht, was uns traurig macht, fehlt uns ein großes Puzzlestück zur Beantwortung der Frage, was uns im Leben wichtig ist. Gestehen wir uns selbst ein, dass wir enttäuscht, traurig, verunsichert oder verliebt sind, sind wir im ersten Schritt zu uns selbst ehrlich und können damit beginnen, eine Verbindung zu uns aufzubauen. Oder anders gesagt: Lassen wir die Traurigkeit nicht zu in unserem Leben, so drosseln wir auch das Maß an Freude herunter. Verdrängen wir herausfordernde Gefühle, so bleiben wir auch in der Beziehung mit uns selbst stets an der Oberfläche. Wir funktionieren im Außen und spüren eine Leere und Unverbundenheit im Inneren. Es ist vergleichbar mit einer “Freundschaft” in der es nur Small Talk gibt. Kann man haben, nichts ist falsch daran. Und gleichzeitig wird es in dieser Beziehung wohl wenig echte Verbundenheit und blindes Vertrauen geben.

All unsere Gefühle wollen angeschaut und durchfühlt werden. Manche davon liegen an unserer emotionalen Oberfläche und wir finden recht leicht einen Zugang zu ihnen. Andere können wir uns weniger leicht erklären und sie erscheinen uns womöglich sogar unberechtigt oder irrational. Was wir uns nicht erklären können, drücken wir gerne wieder weg. Doch gerade in ihnen kann viel Weisheit darüber liegen, was wir für eine Verbindung mit uns selbst und unserer Umwelt wirklich brauchen. Hier kann es oft hilfreich sein, sie in therapeutischer Begleitung hervorzuholen und aufzuarbeiten.

Gefühle einzugestehen, macht verletzlich und zeigt gleichzeitig, was uns am Herzen liegt. Gehen wir dann einen Schritt weiter und zeigen oder sagen dem Gegenüber, dass er oder sie und wichtig ist, so gehen wir ein echtes Risiko ein. Wir sind mutig. Das kann in die Hose gehen. So ist das mit Risiken. Daraus entsteht Wachstum.

Stärke mit 7Mind dein Mitgefühl zu dir und anderen:

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Finde deinen eigenen Weg, um Verletzlichkeit im Leben zuzulassen

Halten wir fest: Uns authentisch kennen zu lernen und so zu leben, geht nur über das Zulassen der Verletzlichkeit. Gleichzeitig dürfen wir auch unsere eigene Grenze und unser Maß der Dinge anerkennen. Nicht jede Herausforderung muss hier und jetzt genommen werden. Welche Beziehung ist dir wichtig, in welchem Bereich möchtest du wachsen?

Was brauche ich für meinen inneren Garten, um mehr Verletzlichkeit zulassen zu können?

Lerne deine eigene Verletzlichkeit, deine Schutzwall-Mechanismen und deinen persönlichen Gefühls-Blumenstrauß kennen. So wirst du im ersten Schritt mehr Bewusstheit erfahren und im zweiten Schritt für dich klarer erkennen, welche Beziehung und welche Bereiche im Leben genauer angeschaut werden möchten.

Für alle, die schon ein wenig länger Achtsamkeit praktizieren, ist dies hier keine Überraschung: Du hast alles, was du brauchst, bereits in dir. Manches davon darfst du nun ganz gezielt nach oben holen. Dort, wo es etwas von der Luft der echten Welt schnuppern darf. Es empfiehlt sich, das Zulassen von Verletzlichkeit in nach und nach größer werdenden Kreisen zu üben.

  • Der innere Kreis: Checke mit dir selbst ein. In Minuten der Achtsamkeit kannst du erst einmal mit dir selbst in Kontakt kommen. Hier eignet sich zum Beispiel zunächst eine geführte Meditation, die dich zur Reflexion deines Tages anregt oder - um mehr mit deinem Körper in einzuchecken - ein Bodyscan. In einer sich daraufhin anschließenden Stille kannst du dich nun fragen, wie es dir gerade geht und was du fühlst. Gibt dir dafür Zeit. Wir sind so sehr gewohnt, herausfordende Gefühle wegzudrücken, dass sie meist einige Zeit brauchen, um wieder an die Oberfläche zu kommen. Schau dir an, was da ist. Es geht nicht darum, ein Problem zu lösen oder eine Angst zu beseitigen. Hier und jetzt geht darum, sie dir anzuschauen.

  • Der äußere Kreis: Checke mit einer dir nahestehenden Person ein. Sprecht über eure Ängste. Kontaktiert euch, sobald etwas scheinbar Peinliches passiert ist. Scham ist der absolute Endgegner der Verletzlichkeit. Er springt zuverlässig an, wenn uns etwas unangenehm ist. Wollen wir die Verletzlichkeit zulassen, so geht kein Weg an der Schamresilienz vorbei. Das heißt: Wir lassen uns nicht mehr von der Scham beherrschen. Der beste Weg, gegen die Scham ist es, sie auszusprechen. Es ist faszinierend, wie schnell sie verpufft. Sprechen wir aus, wofür wir uns schämen, sind wir oft überrascht, dass andere solche Situationen ebenfalls kennen. Außerdem wirst du schnell feststellen, dass eine Beziehung an Stärke gewinnt, wenn ihr euch in solchen Momenten einander anvertraut.

  • Lass den Kreis schrittweise weiter wachsen: Bist du in Verbundenheit mit dir selbst und konntest dich auch im offenen Austausch üben, so wird dir deine Intuition, dein Bauchgefühl ein Hinweis geben, was als nächstes dran ist.

Vielleicht ahnen es manche von euch, die bereits ein wenig mit der eigenen Verletzlichkeit experimentiert haben: Das Leben gewinnt an Farbe. Alle Bereiche. Das macht es nicht immer einfacher. Ehrlich gesagt macht es das Leben in einigen Momenten sehr viel herausfordernder. Wir bekommen ein so viel besseres Gespür dafür, was jetzt gerade für uns richtig und wichtig ist. Das ist nur nicht immer der einfachste oder harmonischste Weg. Nein, in Bewusstheit wird dein Leben nicht leichter. Aber ehrlicher, bunter, authentischer und verbundener. Mit dir selbst und mit anderen.

In unserer stark leistungsgetriebenen höher-schneller-weiter Welt, ist das Zulassen von Verletzlichkeit nicht leicht umzusetzen. Es braucht Übung. Ein Bereich, der bisher so vollkommen von Verletzlichkeit befreit war, ist die Politik. Bloß keine Fehler, Erschöpfung, Müdigkeit, Unsicherheit zugeben. Daher ist es umso ermutigender und ein Zeichen, dass sich unsere Gesellschaft im Wandel befindet, dass wir ein Zeichen der Verletzlichkeit aus den ersten Reihen der Politik erfahren durften. Es war der Rücktritt der neuseeländischen Premierministerin Ardern.

Ihr Statement: "Ich weiß, was man für diesen Job braucht, und ich weiß, dass ich nicht mehr genug im Tank habe. Es ist so einfach. Wir alle geben, solange wir geben können, und dann ist es vorbei. Und für mich ist es nun an der Zeit." Sie hätte sich für Floskeln entscheiden können. Hat sie aber nicht. Lassen wir das schrittweise nicht nur in unseren privaten Beziehungen, sondern auch in der Arbeitswelt und der Politik zu, können wir tatsächlich Innovation leben, wachsen & unsere eigene Gesundheit bewahren.

Zum Weiterlesen: Brené Brown - Verletzlichkeit macht stark

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