Keep Distance – eine Kolumne von Paul Kohtes

Warum die aktuelle Distanz in der Verbundenheit resultieren kann, nach der wir uns alle sehnen. Eine Kolumne von Zen-Lehrer und 7Mind-Stimme Paul Kohtes.

von Paul Kohtes

Alle reden zurzeit von Verbundenheit. Wie wunderbar es doch ist, dass wir durch die Krise alle enger zusammenrücken und wir endlich etwas haben, das uns weltweit als Menschen miteinander verbindet. Ganz konkret erleben wir das ja auch im eigenen, persönlichen Umfeld. Meine Kinder haben mich noch nie so oft angerufen oder Nachrichten geschickt. Keine E-Mail, die nicht mit der Floskel endet, „bleib gesund“. Selbst Nachbarn auf einem der vielen Balkone, mit denen ich früher nie gesprochen hätte, nicken mir plötzlich zu und ich nicke zurück. Wir haben uns verstanden. Ich denke, jeder wird bereits ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Das ist so etwas wie der sekundäre Krankheitsgewinn. Der ist ein belegtes Phänomen, das vermutlich jeder auch schon einmal erfahren hat. Nämlich, dass jede Krise immer auch irgendeinen Vorteil mit sich bringt, zu irgendetwas gut ist. Das meine ich nicht etwa als laschen Trost, sondern es ist so, empirisch nachgewiesen. Da ist es nur logisch, dass nach dem allgemeinen großen Erschrecken, nach dem „Guten“ dieser Krise gesucht wird. Wer hätte noch nicht den Gedanken gehabt, dass es doch höchste Zeit sei für radikale Veränderungen und dass diese Krise der Startpunkt dafür sein könnte? Wir wissen dabei ziemlich genau, was wir alles von einer solchen erzwungenen Transformation erwarten: Überwindung der globalen ökologischen Krise. Ende der krebsartigen Auswüchse des Wirtschafts- und Finanzsystems, Beginn eines kooperativen, menschenwürdigen Miteinanders, letztlich Erfüllung des „Pursuit of Happiness“, wie es beispielsweise in der amerikanischen Verfassung postuliert ist. Ja, warum auch nicht? Wenn wir nicht von der Veränderung zum Besseren träumen, wird unser Leben zu einer elenden Tretmühle. In diesem Gedankenmodell gibt es zwei Protagonisten: der blinde Optimismus – und die unkontrollierte Angst. Wir neigen dazu, uns für eine der beiden Seiten zu entscheiden, Pessimist oder Optimist. Die Folge davon: unsere Sicht auf das, was ist und was werden könnte, wird davon geleitet. Wir sind fixiert. Es ist jedoch erfahrungsgemäß keine besonders erfolgversprechende Grundhaltung, fixiert zu sein.

Hier kommt nun Mindfulness ins Spiel. Nie zuvor haben Meditation und Achtsamkeit eine solche allgemeine Bedeutung gehabt wie gerade jetzt. Die Optimisten treibt die Idee, sich dabei selbst und die Welt zu retten. Das endet oft in „wishfull thinking“. Die Pessimisten treibt die Angst und die Verzweiflung. Das endet oft in Depression. Wenn sie sich dann in der Meditation treffen, machen sie allerdings eine gemeinsame Erfahrung. Es ist die Erfahrung der Distanz zu sich selbst, zu den eigenen Gedanken, zu den vielen eigenen Prinzipien. Erstaunlicherweise ist das für die meisten Menschen eine völlig neue Erfahrung. Nämlich, sich selbst mit etwas Abstand wahrnehmen zu können. Und noch etwas: das dann auch aushalten zu können, nichts zu tun. Den Dingen ihren Lauf zu lassen. Und zu erfahren, dass die Welt dennoch nicht untergeht. Mit einer solchen neuen, freien Sicht wird die Krise und unser Umgang damit auf einmal zu einer Metapher: Keep distance. Das, wozu wir uns im Alltag gegenwärtig verpflichten, nämlich gebührenden Abstand zu Anderen zu halten, lässt sich nämlich auch auf uns selbst übertragen. Halte Abstand – zu deinen Gedanken, zu deinen Gefühlen – und vor allem zu deinem Willen. Erstaunlicherweise entsteht daraus, aus der Distanz, eine Verbundenheit - nach der wir uns doch alle so sehr sehnen.

Auf der Suche nach inne­rem Gleich­ge­wicht ent­deckte Paul Kohtes die Medi­ta­tion für sich und machte es sich anschlie­ßend zur Auf­gabe, die Welt der Wirt­schaft und der Acht­sam­keit mit­ein­an­der zu ver­bin­den. Paul ist die Stimme von 7Mind und haucht unse­ren Medi­ta­tio­nen Leben und Ent­span­nung ein. Inzwi­schen leitet er welt­weit Medi­ta­ti­ons­se­mi­nare und ist Initia­tor des inter­na­tio­na­len Füh­rungs­kräf­te­pro­gram­mes​“Zen for Lea­dership”. 1998 grün­dete er außer­dem die Stif­tung​“Iden­tity Foun­da­tion”, die das Thema Iden­ti­tät wis­sen­schaft­lich erforscht.

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