Kontakt ohne Berührung: Was macht Distanz wirklich mit uns?
Während wir uns durch Corona voneinander distanzieren müssen, meiden Hikikomoris aus Japan jahrelang jeglichen Kontakt außerhalb der eigenen Wohnung. Über Beziehung, Berührung und unsere Gesundheit.
Physical Distancing während Corona
Unser soziales Leben hat in den letzten Monaten eine Transformation durchlaufen: Die Kollegen sehen die meisten von uns nur noch über Videochat, Draußen sind wir nur noch mit gutem Grund unterwegs und wenn, dann höchstens zu zweit und mit 1,5 Meter Abstand. Was macht das mit unserem geistigen und körperlichen Wohlbefinden? In diesem Artikel wollen wir genau das heraus finden.
Dafür werfen wir einen Blick nach Japan, zu den sogenannten Hikikomoris: Individuen der Gesellschaft, die sich freiwillig für die totale Isolation in der eigenen Wohnung entscheiden – und das meist jahrelang. Was sind ihre Beweggründe und die Auswirkungen davon?
Außerdem wollen wir herausfinden, welchen Effekt Berührungen auf unsere Gesundheit haben. Kann zwischenmenschliche Nähe auch ohne physische Anwesenheit aufgebaut werden? Wir zeigen dir, was die Forschung zu sagen hat. Aber zuerst eine kleine Reise nach Japan.
Hikikomori: Soziales Phänomen aus Japan
Hikikomori: Der japanische Begriff bedeutet so viel wie "sich einschließen" und fand erstmals im Jahr 1998 Verwendung. Er bezieht sich einerseits auf die Menschen, sogenannte Hikikormoris, als auch das psychologische Phänomen dahinter: Ein Zustand, in dem jeglicher sozialer Kontakt gemieden wird und man sich für mindestens sechs Monate in das eigene Zuhause zurückzieht.
Das betrifft vor allem die japanische Bevölkerung: Behörden schätzen die Zahl der Hikikomoris auf über eine Million, hauptsächlich über vierzig Jahren und männlich. Die eigene Wohnung, häufig von den Eltern finanziert, wir nur noch im Ausnahmefall verlassen. Dabei begibt sich ein Hikikomori im Durchschnitt 13 Jahre in die Isolation. Aber wie kommt es zu dieser radikalen Entscheidung? Warum in die jahrelange Isolation begeben?
Woher die freiwillige Isolation kommt
Was wir zu Pandemie-Zeiten aus gesundheitlicher Motivation tun, hat für Hikikomoris psychologische Gründe: Druck von Außen, Gefühle des Versagens und eine immer größer werdende Scham spielen häufig eine große Rolle in ihrem Leben. In Studien und Befragungen fanden PsychologInnen und ForscherInnen heraus, dass viele Einflussfaktoren auf die japanische Gesellschaft zurückzuführen sind.
So entstand während der Boomjahre nach der Nachkriegszeit ein Gesellschaftsmodell, in denen sich Japaner ihr Leben lang für ihre Firma aufopferten. Dieses Modell sei so verinnerlicht worden "als gäbe es keine andere Form der Existenz mehr", beschreibt Hideo Tsujioka, Gründer der NGO Yu-do Fu, die sich um Hikikomoris kümmert. Der Druck, nach dem Uni-Abschluss einen guten Job zu bekommen ist enorm, da das in Japan oft der einzige Zeitpunkt für diese Chance ist. Wer diese Chance verpasst, fühlt sich schnell abgehängt und wird in der Folge häufig von Versagensängsten geplagt.
Sich über Jahre hinweg in der Wohnung zu verschanzen ist für viele von uns unvorstellbar. Ist Einsamkeit eine Entscheidung und wenn ja, wieso sollten wir uns dafür entscheiden wollen? Das fragte Zeit Campus Nito Souji: Er begab sich ursprünglich in die Isolation, um sich beruflich selbstständig zu machen. Als nach einigen Jahren der Erfolg ausblieb, wuchs die Scham über seinen Lebensstil immer mehr. Mittlerweile lebt er seit zehn Jahren den Hikikomori-Lebensstil, hat seit dem keinen Freund mehr getroffen und trotzdem: Er sagt er sei nicht einsam.
Achtsamer leben durch Meditation:
7Mind kostenlos startenDie Rolle zwischenmenschlicher Beziehungen für unser Wohlbefinden
Bewegungen wie die der Hikikomoris regen zum Nachdenken an und lassen uns über die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen grübeln. Es gibt etliche Studien und Untersuchungen über die Wirkungen von Beziehungen auf unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit.
So kam Psychologin Julianna Holt-Lunstadt nach Auswertung hunderter Studien zu dem Ergebnis, dass Einsamkeit und ein Mangel an Freundschaften einen enorm negativen Effekt auf unsere Gesundheit und Lebenserwartung habe – ähnlich stark wie klassischen Risikofaktoren, wie Übergewicht oder Rauchen.
Außerdem wurde erforscht, dass Berührungen von unseren Mitmenschen nicht nur Stress reduzieren, sondern auch unseren Blutdruck und das Level des Stresshormons Cortisol verringern. Regelmäßige Umarmungen sollen unseren Blutdruck fast genauso effektiv senken wie Medikamente. Außerdem geht der Oxytocin-Spiegel durch zwischenmenschliche Berührung nach oben, wodurch unsere Angst geschwächt und unser Vertrauen zur anderen Person sowie unsere Empathiefähigkeit gestärkt wird.
Klingt toll, oder? Aber was bedeutet das für diejenigen von uns, die von der vorgeschriebenen physischen Distanz besonders betroffen sind? Einpersonenhaushalte, Senioren und Kinder zum Beispiel. Finden wir heraus, ob soziale Kontakte, auch ohne physische Präsenz, die gleichen positiven Effekte erzielen können.
Intimität jetzt nur noch online – geht das?
Zwischenmenschliche Nähe bringt viele positive Erscheinungen mit sich: Selbstoffenbarung, soziale Unterstützung und physische Berührungen sind ein paar davon. Aber können wir Intimität auch ohne persönlichen, analogen Kontakt aufbauen und pflegen?
Interessant ist, dass sich unsere zwischenmenschlichen Beziehungen und unsere Kommunikation schon in den letzten Jahren und Jahrzehnten sehr stark gewandelt haben und immer mehr in die digitale Welt gerutscht ist. Physische Nähe und Face-to-Face Kontakte werden immer seltener und in alltäglichen Interaktionen häufig durch digitale Kommunikation ersetzt: Die Mail vom Arbeitskollegen, der im gleichen Büro sitzt, das Videotelefonat mit der Familie oder die Facebook-Gruppe, mit der wir uns über Tipps und Themen austauschen. Das alles fand vor zwanzig Jahren noch über andere, häufig analoge Wege statt.
Welchen Wert die "Internet-Nähe" neben der physischen zwischenmenschlichen Intimität einnimmt, ist noch weitgehend unerforscht, denn dafür muss man viele verschiedene Einflussfaktoren in Betracht ziehen.
Bewiesen ist aber, dass zumindest gewisse Konzepte von Nähe über Telefon, Skype und Co. bedient werden können. Das fand Leslie Seltzer von der University of Wisconsin in Rahmen eines Experimentes heraus. Alle Teilnehmer wurden einer großen Stresssituation ausgesetzt. Ein Drittel von ihnen wurde danach von der Mutter in den Arm genommen, andere durften sie zumindest anrufen und das letzte Drittel verbrachte die darauf folgende Zeit mit Fernsehen. Bei den ersten beiden Gruppen viel der Cortisolspiegel praktisch gleich schnell ab, während massig Oxytocin ausgeschüttet wurde. Die Gruppe ohne soziale Interaktion behielt noch Stunden nachher das erhöhte Cortisol- und damit auch Stresslevel. Nähe und Intimität können also auch über Distanz hinweg wirken.
Also ja, für viele Menschen birgt die aktuelle Zeit eine große soziale Herausforderung, auf die jeder individuell reagiert. Wir sind sensibler für Gefühle der Einsamkeit, weil uns unsere gewohnten sozialen Kontakte fehlen und die Umarmung oder das freundschaftliche Schulterklopfen fehlt. Aber Dank technischer Mitteln können wir Nähe weiterhin in vielen Facetten erleben. Sei es durch ein langes Telefonat mit einem Freund, den virtuellen Spielabend mit der Familie oder eine einzelnes "Wie geht es dir gerade?" über WhatsApp.
Und was sagt Hikikomori Nito Souji zu denen, die unter Social Distancing leiden?
"Die Menschen sollten sich schon jetzt überlegen, was sie machen wollen, wenn das alles vorbei ist. Darauf kann sich dann jeder freuen, so wie ich mich auf den Tag freue, wenn ich kein Hikikomori mehr bin. Also: Haltet eure Hoffnungen aufrecht! So wie ich das die letzten zehn Jahre gemacht habe."
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